Sven-Christian Kindlers Beitrag zum Grundsatzprogramm: Öffentliche Güter ausbauen - Reichtum umverteilen

  • Veröffentlicht am: 6. April 2019 - 21:01

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Photo by Carlos Alberto Gomez Iniguez on unsplash

Die neoliberale Ideologie hat den Staat und seine öffentlichen Institutionen in den letzten Jahrzehnten geschwächt. Zeit für einen Politikwechsel und eine andere Finanzpolitik.

Ein Beitrag zum Grünen Grundsatzprogramm von Sven-Christian Kindler

In den 1990er und in den 2000er Jahren war der Neoliberalismus das bestimmende politische Konzept. Der Neoliberalismus als politisches Konzept hatte drei Ziele: Die Rückführung der Staatsquote, die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und die Deregulierung von Märkten, insbesondere der Finanzmärkte. In Deutschland z. B. hat die rot-grüne Bundesregierung Steuersenkungen für hohe Einkommen und Unternehmensgewinne und die Liberalisierung des Finanzsektors vorangetrieben. Die rot-rote Landesregierung in Berlin hat zehntausende kommunale Wohnungen privatisiert. Das waren schwere Fehler, welche die damals handelnden Parteien heute auch wieder korrigieren wollen. Der rot-rot-grüne Berliner Senat beispielsweise unternimmt große Anstrengungen die Mietexplosionen zu stoppen und bezahlbaren Wohnraum selbst zu schaffen. Doch dafür ist neben Unterstützung des Bundes auch ein grundlegender Politikwechsel – wie in vielen anderen Bereichen – zur Abkehr vom Neoliberalismus notwendig.

Ein Kernproblem neoliberaler Politik ist die Fixierung auf eine niedrige Staatsquote. Die Staatsquote lässt sich effektiv nur über die Ausgaben des Staates steuern. Wer also auf eine niedrige Staatsquote fixiert ist, setzt die Handlungsfähigkeit des öffentlichen Gemeinwesens aufs Spiel. Im besten Falle wird der Status quo verwaltet, im schlimmsten Falle droht – insbesondere in einer Rezession – zusätzlicher Spardruck. Die Kennzahl der Staatsquote sollte also nicht die politische Diskussion bestimmen. Viel wichtiger ist doch die Frage, ob der Staat für die Aufgaben, die er hat und die Herausforderungen vor denen wir als gesamte Gesellschaft stehen, gut genug gerüstet ist. Das ist mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland stark zu bezweifeln.

Privat vor Staat ist gescheitert

Die Folgen einer Politik, die den demokratischen Staat an Aufgaben und Ressourcen geschrumpft hat, erleben viele Menschen tagtäglich: Überforderungen bei Gerichten, Schlangen in Bürgerämtern oder viel zu lange Bearbeitungszeiten zum Beispiel bei Anträgen zum Wohngeld. Wer aber auf Wohngeld angewiesen ist, braucht schnelle Hilfe. Wenn die Bearbeitungszeit dann über zehn Wochen liegt, werden in der Zwischenzeit schon zwei Mietzahlungen fällig. Ein Blick auf die Beschäftigtenzahlen im öffentlichen Dienst zeigt, woher das Problem kommt. Über 500.000 Stellen sind in den kommunalen Verwaltungen zwischen 1991 und 2016 abgebaut worden. Das Problem droht sich angesichts der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren weiter zu verschärfen. Schon jetzt ist es schwer, wegen der Konkurrenz mit dem Privatsektor geeinigte Fachkräfte zu finden. Eine riesige Pensionswelle wird den öffentlichen Dienst in den nächsten Jahren noch weiter schwächen. Mit den Ideen und Konzepten der 90er wird man darauf keine Antwort finden.

Der kommunale Investitionsstau steigt stetig. Im aktuellen Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau melden die Kommunen einen Investitionsstau von unglaublichen 159 Milliarden Euro. Dem gegenüber steht ein Schuldenstand von 129 Milliarden Euro. In vielen Kommunen fehlen Planerinnen und Planer. Neue werden nicht eingestellt, weil das Geld für eine dauerhafte Beschäftigung fehlt und die Bundesregierung keine verlässliche und langfristige Investitionsstrategie verfolgt. So bleiben sogar bestehende Investitionsgelder liegen und der Investitionsstau wächst weiter.

Dazu kommen extreme regionale Unterschiede. Orte wie Freiburg oder Regensburg haben deutlich weniger Probleme als Duisburg oder Cottbus. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen sind wir weit entfernt. Das ist nicht der einzige Grund, aber auch ein Grund, warum die extrem Rechten der AfD in abgehängten Regionen auftrumpfen können. Sie nutzen mit ihren dumpfen Parolen die durchaus verständliche Frustration derer aus, welche die Erfahrung gemacht haben, am Ende alleine dazustehen. Dabei darf man nicht vergessen: Die AfD wird vielfach nicht trotz, sondern auch wegen ihrer rassistischen und autoritären Programmatik gewählt. Eine reine Verkürzung der Erfolge der AfD als Folge neoliberaler Politik greift daher zu kurz. Den Abbau des Staates als eine bedeutsame Ursache und als Verstärker auszublenden aber ebenso. In einem Klima von sozialer Kälte wächst das Gefühl der Überforderung und verfangen sich Neiddebatten besser. Dies nutzen die extremen Rechten gezielt zur Mobilisierung und besetzen die soziale Frage rassistisch. Die rechte Lügenerzählung eines völkischen „wir gegen die“ kann sich unter anderem auch deswegen verfangen, weil es Menschen gibt, die von der öffentlichen Daseinsvorsorge enttäuscht sind und das Gefühl haben, mich und meine Probleme nimmt niemand richtig ernst.

Der Staat muss wieder handlungsfähiger werden

Der Staat und seine Institutionen müssen handlungsfähiger werden. Verloren gegangenes Vertrauen gilt es wieder aufzubauen. Der demokratische Rechtsstaat lässt sich nur erhalten, wenn er sein Versprechen von Wohlstand, Sicherheit und einem guten Leben für alle einlöst. Teilhabe und Selbstbestimmung brauchen handlungsfähige öffentliche Institutionen. Es geht dabei nicht darum, Menschen einfach mit Geld abzuspeisen oder sie den Institutionen auszuliefern. Hilfe zur Selbsthilfe, Empowerment, gemeinsame Planung und Kooperation statt Gängelung und unnötige Vorschriften, das sind die Hauptaufgaben staatlicher Institutionen im Umgang mit ihren Bürger*innen.

Viele große Herausforderungen in den nächsten Jahrzehnten werden zudem dazu führen, dass der Staat mehr eingreifen und steuern muss als in den vergangenen Jahren: Die Bekämpfung der Klimakrise und der notwendige sozial-ökologische Strukturwandel sind riesengroße Aufgaben, wo der Staat angesichts des „größten Marktversagens der Geschichte“ (Nicholas Stern über den Klimawandel) eine zentrale Rolle spielen wird. Eine älter werdende Gesellschaft führt dazu, dass deutlich mehr Menschen auf die öffentlichen Güter Pflege und Gesundheit angewiesen sind. Die Digitalisierung bedeutet eine radikale Umwälzung in zentralen Bereichen, die ohne eine starke staatliche Steuerung zu großen Brüchen und Verwerfungen führt. Um diese und weitere großen Transformationsprozesse zu steuern, wird der Staat mehr investieren und mehr Personal einstellen müssen. Die Staatsquote wird also als Folge dessen zwangsläufig steigen.

Wir wissen, was für einen Staat, der handelt, statt bloß verwaltet, notwendig ist. Mehr Personal in der Verwaltung, vom Bauamt, über die Kinder- und Jugendhilfe bis zur Wohngeldstelle. Mehr Geld für die öffentliche Daseinsvorsorge, Schwimmbäder, Schulen und einen öffentlichen Nahverkehr, der verlässlich und bezahlbar ist. Auch eine bessere Bezahlung im öffentlichen Dienst und mehr Fortbildungen in den staatlichen Institutionen, damit die klügsten Köpfe nicht nur für Google, sondern eben auch für das Gemeinwesen arbeiten. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen, nicht umsonst hat das Grüne Wahlprogramm fast 250 Seiten. Für uns selbst ist das eine Verpflichtung für die Zukunft. Der grüne Staat ist ein Staat, der unterstützt und Selbstbestimmung ermöglicht, der Transformationsprozesse anstößt und aktiv begleitet und niemanden im Stich lässt. Wir wollen im Kern eine egalitäre Gesellschaft.

Zeit für einen Politikwechsel

Die Lage der öffentlichen Haushalte es hat sich zwar in den letzten Jahren verbessert, sodass ein gesamtstaatlicher Überschuss erzielt werden konnte. Davon darf man sich aber nicht blenden lassen. Die schwarze Null ist nicht das Ergebnis harter Arbeit am Haushalt, sondern liegt an der guten Konjunktur und an den historisch niedrigen Zinsen. Wolfgang Schäuble und Olaf Scholz können sich bei Mario Draghi bedanken. Ohne diese glücklichen Entwicklungen wäre der Sanierungsstau und Fachkräftemangel der öffentlichen Hand noch prekärer. Die Haushalte sehen zwar oberflächlich gut aus, aber das Fundament ist marode. Deswegen braucht es strukturelle, also dauerhafte Lösungen. Die Einnahmen des Staates müssen steigen.

Wer mehr für das Gemeinwesen einnehmen will, der muss auch sorgsam mit den Steuergeldern und Beiträgen der Bürger*innen umgehen. Wir brauchen Good Governance in den öffentlichen Kassen. Gute Regierungsführung ist vor allem eine Frage der Gerechtigkeit. Wenn Milliarden in Rüstungsdesastern oder beim BER versickern, aber bei Alleinerziehenden die Spardose aufgemacht wird, ist das zutiefst ungerecht. Notwendig ist daher ein aktives Controlling des Staates mit einer effizienten Planung, Lenkung, Steuerung und Kontrolle der öffentlichen Aufgaben und Prozesse.

Und gerade angesichts der sich verschärfenden Klimakrise, muss der Staat die Subventionierung von umweltschädlicher Produktion mit Steuergeldern stoppen. Jedes Jahr verschwendet der Bund über 50 Milliarden an Subventionen, die das Klima und damit unsere Lebensgrundlagen zerstören. Diese Subventionen für den schmutzigen Diesel, für die Flugkonzerne, für Plastiktüten oder für die Agrarindustrie müssen konsequent abgebaut werden. Das ist gut für das Klima und gut für den Haushalt.

Ein besseres Controlling und die Hebung von Effizienzpotenzialen staatlicher Institutionen sind wichtig, werden aber nicht ausreichen. Wer glaubt, man könne die Folgen der neoliberalen Politik ohne einen echten Richtungswechsel ändern, der irrt. Ein Staat, der handlungsfähig ist, sozial absichert und in die Zukunft investiert, braucht auch eine andere Steuerpolitik. Diejenigen, die von den Steuersenkungen der neoliberalen Zeit besonders profitiert haben, müssen wieder stärker zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben in die Verantwortung genommen werden. Eigentum verpflichtet, das darf nicht länger ein leeres Versprechen des Grundgesetzes sein.

Selbst Christine Lagarde, die Direktorin des IWF, spricht sich mittlerweile für mehr Umverteilung in Deutschland aus. Deutschland ist international ein Niedrigsteuerland für Vermögen. In keinem anderen Land der Euro-Zone ist der Wohlstand so ungleich verteilt wie in Deutschland. 45 Deutsche besitzen so viel wie 40 Millionen, die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die Vermögensteuer und die Steuersätze in der Einkommensteuer unter Helmut Kohl gelten manchen heute ja fast schon als Sozialismus. Warum eigentlich? Eine echte Vermögensteuer, eine höhere Erbschaftssteuer und eine gerechte Einkommensteuer können dazu beitragen, dass Schulen richtig ausgestattet sind, dass Busse und Bahnen besser und häufiger fahren und es wieder mehr sozialen Wohnungsbau und überall schnelles Internet gibt. Wir Grüne haben ein gutes Angebot für all diejenigen, die sich einen Staat wünschen, der handlungsfähig ist, der in die Zukunft investiert und der in Notlagen unterstützt, ohne dass man die Selbstbestimmung verliert. Das gibt es nicht zum Nulltarif. Ohne eine Abkehr von der falschen Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte, die Reiche und Konzerne privilegiert, die von unten nach oben umverteilt, wird es nicht gehen.